CoHousing|Berlin für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen

Offener Brief an Senator für Stadtentwicklung und Umwelt Andreas Geisel

Berliner Stärken bewahren – nachhaltigen Wohnungsbau schaffen

Ein offener Brief macht auf die derzeitige Situation und aktuelle Entwicklungen des Berliner Wohnungsmarkts, insbesondere auf die Lage selbstorganisierter Wohnprojekte, aufmerksam. Er weist auf die Hindernisse, die dem gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen nach wie vor entgegenstehen hin und fordert Herrn Geisel auf, dieses Thema verstärkt in eine nachhaltige Stadtentwicklung einzubinden.

Berlin, 13.10.2015
Sehr geehrter Herr Senator Geisel,
als Teil von Berlins lebendiger CoHousing-Szene wenden wir uns heute mit einem offenen Brief an Sie, um Sie auf die Hindernisse aufmerksam zu machen, die dem Wohnungsbau durch gemeinschaftliche Bau- und Wohnprojekte aufgrund des angespannten Berliner Immobilienmarktes derzeit entgegenstehen. Wir möchten Sie auffordern und bitten, diesen wichtigen Stadtbaustein stärker als bisher zu unterstützen und aktiv in die Strategie Ihres Hauses für eine kooperative und nachhaltige Stadtentwicklung einzubinden.
Zunächst möchten wir Ihnen unsere Unterstützung zusichern, nach einer Dekade der stiefmütterlichen Behandlung des Wohnungsbaus dieses wichtige Thema des Erhalts sowie der Förderung von neuem bezahlbarem Wohnraum für alle zum Zentrum der Berliner Wohnungspolitik zu machen.
Dass die erforderliche Größenordnung die Gefahr mit sich bringt, gesichtslosen Massenwohnungsbau zu erzeugen, wird bereits heftig diskutiert und in der Fachwelt weithin befürchtet. Sehr positiv bewerten wir daher die grundsätzlichen Bemühungen aus Ihrem Hause, dieser Tendenz durch Diversifizierung der Nutzungskonzepte und Eigentumsstrukturen entgegen zu wirken.
Gemeinschaftliche Wohnprojekte sind ein wichtiger Baustein für innovativen und zukunftsfähigen Wohnungsbau
Vor dem Hintergrund des dynamischen Immobilienmarktes hat sich das wichtige Marktsegment des Wohnungsbaus durch Wohnprojekte und Baugemeinschaften seit 2013 fast halbiert. Zeitgleich wurde die dringend benötigte ideelle wie praktische Unterstützung durch Senat und Verwaltung zurückgefahren. Gemeinschaftliche Wohnprojekte sind jedoch von großer Wichtigkeit im sozialen Geflecht der Stadt und benötigen ebenso Aufmerksamkeit und Unterstützung wie der Bau von regulären, preisgünstigen Mietwohnungen.
Ihren Beitrag zur nachhaltigen Stadtentwicklung leisten gemeinschaftliche Hausprojekte insbesondere durch das weit überdurchschnittliche Engagement ihrer BewohnerInnen. Mit großer Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für Haus und Kiez, Nachbarschaft und Umwelt stärken sie Quartiere auf lange Sicht. Beteiligungs-und Aneignungsmöglichkeiten garantieren eine hohe Identifikation mit dem Ort, sie sichern dadurch eine solide BewohnerInnenstruktur, niedrige Fluktuationsraten und somit hohe soziale Stabilität. Gleichzeitig dienen Wohnprojekte als Laboratorium für experimentelle Wohnformen: Viele solcherart erprobter Wohnkonzepte gehören heute zum Standard, wie z.B. das generationenübergreifende Wohnen. Die geschätzt 1.000 gemeinschaftlichen Hausprojekte Berlins haben so seit den 1970er Jahren weltweit zum positiven Image der Stadt beigetragen und sind ein wichtiger Standortfaktor. Die große Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit, von der englischen Architekturpresse über niederländische Kommunalverwaltungen bis hin zum taiwanesischen Fernsehen bezeugt, dass die ganze Welt inzwischen mit Bewunderung auf diese Berliner Errungenschaft blickt und von Berlin lernen will.
Wir möchten Sie daher nachdrücklich auffordern, die CoHousing-Bewegung als wichtigen Akteur der Wohnungsbaupolitik anzuerkennen und als regulären Bestandteil aktiv in alle strategischen Überlegungen und Maßnahmen zur Wohnungsbau- und Quartiersentwicklungspolitik Ihres Hauses einzubeziehen.
Wir gehen dabei von folgenden Zielen einer nachhaltigen Stadtentwicklung aus, die maßgeblich auch mithilfe gemeinschaftlicher Wohnformen erreicht werden:
Nutzungsvielfalt und Nutzungsmischung für eine nachhaltige Sicherung sozial und wirtschaftlich stabiler, urbaner Quartiere sowie eine Stadt der kurzen Wege
Anpassungs- und Zukunftsfähigkeit für künftig sich verändernde Rahmenbedingungen durch flexible, selbstverwaltete Strukturen, Mitbestimmung und Aneignung auf den Ebenen Haus, Block und Quartier sowie für Wohn-, Gewerbe- und Multifunktionsflächen
NutzerInnen- und standortgerechte Lösungen durch Selbstorganisation und Partizipation für hohe BewohnerInnenidentifikation, langfristige Wohnverhältnisse, geringe Fluktuation, solide nachbarschaftliche Integration
Schaffung neuartiger, innovativer und bedarfsorientierter, nicht-nur-standardisierter Wohnmodelle als zeitgemäße Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen (Ausdifferenzierung der Lebensformen und -stile, Abkehr vom klassischen Familienmodell, Zunahme der Ein-Personen Haushalte, sowie der demografische Wandel) durch Ermöglichung experimenteller, individuell zugeschnittener Wohnformen
Ökologische und klimagerechte Stadt durch Umsetzung energieeffizienter und ökologischer Bau- und Nutzungskonzepte sowie die Weiterentwicklung ressourcenschonender Sharing-Modelle
Integration und Inklusion von Bedarfsgruppen wie Alleinerziehenden, SeniorInnen, Flüchtlingen o.ä.
Diese Ziele sind bei bisherigen Maßnahmen Ihres Hauses oder der von Ihnen befürworteten Wohnungsbaugesellschaften nur teilweise zu erkennen.
Unsere Empfehlungen zur Förderung nachhaltiger Stadtquartiere und gemeinschaftsorientierter Wohnformen:

Mindestens 30 Prozent der BGF der landeseigenen Grundstücke und der Entwicklungsgebiete sollten vom Land Berlin an gemeinschaftsbasierte Wohnprojekte wie Wohngenossenschaften und Baugemeinschaften vergeben werden. Insbesondere Genossenschaften sollten mit einbezogen und öffentliche Liegenschaften bevorzugt für den Neubau preisgünstiger Wohnungen und Wirkungsräume genutzt werden.
Diese und weitere Grundstücke sollten nach dem Konzeptverfahren vergeben werden, um die Entwicklung und Umsetzung qualitativer Nutzungskonzepte zu  fördern. Modellhaften Konzepten sozialer, kultureller und ökologischer Lebens- und Arbeitsformen soll Raum gegeben werden. Größere Einheiten von 30-100 Wohnungen zeigen sich dabei praktikabler und sinnvoller als Kleinlose wie z.B. 10-20 Wohnungen. Vergabeverfahren sollten gestrafft werden, um der wachsenden Wohnungsnot Abhilfe schaffen zu können. Fachleute der CoHousing Szene sollten in die Beratung über die Auswahl der Immobilien und die Gestaltung der Verfahren miteinbezogen werden. Die Netzwerkagentur GenerationenWohnen als Expertin für generationenübergreifendes, gemeinschaftliches Wohnen sollte hierbei gehört werden.
Um über den Förderhorizont der herkömmlichen Wohnraumförderung hinaus Mieten langfristig beeinflussen zu können, sollten Erbpachtmodelle auf mindestens 30% der Flächen entwickelt und für Wohn-, Gewerbe- und gemeinnützige Vorhaben gleichermaßen erprobt werden. Erbpachtmodelle, in denen z.B. die ersten 15 Jahre zinsfrei sind und erst in den darauffolgenden Jahren ein regulärer Erbpachtzins zu zahlen ist, könnten in Zeiten des dringenden Bedarfs kurzfristig günstigere Mieten ermöglichen. Dies kann vor allem für Genossenschaften für die Produktion von Wohnraum interessant sein, denen als lokalen InvestorInnen ein Vorrecht gegenüber nationalen und internationalen InvestorInnen eingeräumt werden sollte. Durch die Erbpacht bleibt darüber hinaus grundsätzlich eine langfristige Einflussmöglichkeit auf die Boden- und Zinspolitik erhalten.
Die zusätzlichen Entwicklungskosten für Experimentellen Wohnungsbau sollten gefördert und bei der Vergabe von Wohnbaufördermittel entsprechend berücksichtigt werden. Die letztes Jahr wieder eingeführte soziale Wohnbauförderung sollte an Qualitätskriterien wie Selbstorganisation und Gemeinschaft gekoppelt werden. Fördermittel sollten so eingesetzt werden, dass sie einen langfristigen Mehrwert für die BewohnerInnen sowie für die Nachbarschaft und das Quartier, generieren. Förderungen, die primär den Wohnungsbaugesellschaften zugutekommen, sollten vermieden werden. Das Förderprogramm für den Experimentellen Wohnungsbau sollte in seinen Vergabekonditionen auf den Handlungsspielraum, insbesondere den zeitlichen und finanziellen Handlungshorizont von CoHousing-Projekten angepasst werden und nicht wie dieses Jahr in den Sommerferien stattfinden. Auch konzeptionell ist hier für Innovationen noch deutlich „Luft nach oben“.
Bestandteil experimenteller Konzepte zum kostengünstigen Bauen sind auch mehr geteilte Ressourcen (Sharing) im Haus bei gleichzeitig kleineren Wohnungen. Die Maßeinheit €/m² Wohnfläche blockiert hier innovative Ansätze, wir schlagen die Maßeinheit €/Wohnung oder €/Person vor.
Gemeinschafliche Wohnprojekte sollten ebenso wie städtische Wohnungsbaugesellschaften prioritär bei der noch weiter auszubauenden sozialen Wohnungsbauförderung berücksichtigt werden, damit sie die Möglichkeit erhalten, diese Art selbstverwalteten Wohnraums auch für untere und mittlere Einkommensgruppen sowie Menschen mit besonderen Wohnbedürfnissen, wie z.B. Flüchtlinge1) anbieten zu können.
Die Förderung der Entwicklung und Erprobung innovativer Beteiligungsformate schafft einen großen und langfristigen Mehrwert für alle beteiligten Akteure und NutzerInnen.
„Bottom-up“-Projekte, wie Genossenschaftsmodelle und Baugemeinschaften sollten gebündelt, gestärkt und weiterentwickelt werden. Dazu sollten Netzwerke, Wohnprojektebörsen, Online- Plattformen und zentrale Anlaufstellen unterstützt und gefördert werden, einerseits für den Austausch zwischen den Projekten, andererseits auch mit ExpertInnen und EntscheidungsträgerInnen.
Wohnungsbaugesellschaften sollten angeregt werden, Angebote für Hausvereine zu schaffen. Hausvereine sind BewohnerInnengruppen, die ein ganzes Haus von einer Gesellschaft mieten und das Zusammenleben und die Neubelegung selbst organisieren.
Die Anforderungen des Ordnungsrechts sollten aktuell nicht weiter kostensteigernd verschärft werden. Die Berliner CoHousing Projekte sind auch „BauherrInnen“, deren Bestrebungen zum kostengünstigen Bauen durch weiter steigende Anforderungen konterkariert werden. Die Novellierung der Bauordnung sollte von weiter kostentreibenden Maßnahmen frei gehalten werden.

Zur Umsetzung dieser Maßnahmen bieten wir Ihnen hiermit die aktive Mitwirkung der Berliner CoHousing-Akteure an.
Die Leistungsfähigkeit dieser Szene ist Ihnen sicher bekannt. Mit rund 500-700 errichteten Wohnungen pro Jahr in den letzten Jahren erreichte dieses Segment unter schwierigen marktwirtschaftlichen Bedingungen einen Anteil von rund 20% an den neu errichteten Wohnungen in Mehrfamilienhäusern (2009-2013)2).
Gerne schlagen wir Ihnen versierte ExpertInnen vor, die durch ihre langjährige professionelle Mitwirkung an unterschiedlichen realisierten CoHousing-Projekten über ein umfangreiches Know-how verfügen und Ihnen sowie der Verwaltung konkrete Vorschläge für Umsetzungen unterbreiten können.
Wir halten eine Umsetzung in zwei unterschiedlichen Beratungsforen für sinnvoll:

Regelmäßige Einbeziehung von CoHousing-ExpertInnen in alle wichtigen Gesprächskreise und Runden Tische der Wohnungsbaupolitik, mit VertreterInnen der Verwaltung sowie der Wohnungswirtschaft und der Verbände, zur Weiterentwicklung der kooperativen Stadtentwicklung.
Städtische CoHousing-Runde mit VertreterInnen aus Verwaltung und Wohnungsbaugesellschaften, zum Aufbau tragfähiger Arbeitsstrukturen. 

Wir freuen uns auf Ihre Antwort und hoffentlich eine Einladung zu einem Gespräch in Ihrem Hause, um nächste praktische Schritte zu vereinbaren.
mit freundlichen Grüße
Dr. Michael LaFond
id22: Institut für kreative Nachhaltigkeit e.V.
u.a. EXPERIMENTDAYS | CoHousing Cultures Buch
Winfried Härtel
Winfried Härtel | Projektentwicklung
Initiator und Steuerer diverser CoHousing-Projekte
 
sowie
Bernfried Adam, PPM GmbH planung + projektmanagement
Tom Bestgen, UTB Projektmanagement- und Verwaltungsgesellschaft mbH
Wilfried Brzynczek, Deutsche Kreditbank AG
Christoph Deimel, Deimel Oelschlaeger Architekten Partnerschaft
Angelika Drescher, Die Zusammenarbeiter
Inka Drohn, Archid
Dr. Christiane Droste, UrbanPlus
Andreas Fecke, Stiftung Edith Maryon
Prof. Jesko Fezer, HfbK Hamburg - Professor für Experimentelles Design
Francesca Ferguson, urbandrift, MAKE CITY
Matthew Griffin, Deadline Architekten
Christoph Heinemann, ifau - Institut für angewandte Urbanistik
Susanne Heiß, ifau - Institut für angewandte Urbanistik
Matthias Heyden, ISPARA - Institut für Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung
Britta Jürgens, Deadline Architekten
Thomas Knorr-Siedow, BTU Cottbus
Florian Köhl, Fat Koehl Architekten
Dr. Barbara König, Bremer Höhe e.G.
Andreas Krüger, Belius, Entwickler von Modulor
Irene Mohr, Mohr + Winterer Architekten GmbH
Rolf Novy-Huy, Stiftung trias
Iris Oelschläger, Deimel Oelschläger Architekten Partnerschaft
Christoph Roedig, roedig . schop architeken GbR           
Dorothee Röger, GLS Bank        
Günter Rose, mrp Projektsteuerung    
Christoph Schmidt, ifau - Institut für angewandte Urbanistik
Christian Schöningh, Die Zusammenarbeiter
Ulrich Schop, roedig . schop architeken GbR
Prof. Jörg Stollmann, TU Berlin - Chair for Urban Design and Urbanization
Susanne Walz, L.I.S.T. Stadtentwicklungsgesellschaft mbH
Peter Weber, Mietergenossenschaft SelbstBau e.G.   
Matthias Winkler, UmweltBank

 

Eine Kurzumfrage im UnterzeichnerInnenkreise ergab, dass bereits zahlreiche bestehende Häuser Zimmer für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt haben oder dies gerade tun. Im Bereich CoHousing-Projekte sind aktuell drei Initiativen bekannt, die hier Wohnraum zur Verfügung stellen, bzw. dies gerade vorbereiten, mit dem Ziel, eine bessere Integration außerhalb von Notunterkünften zu ermöglichen.
Eigene Ermittlungen sowie Angaben der Netzwerkagentur GenerationenWohnen zu beratenen Projekten 2009-2014, sowie „Fertigstellungen neuer Gebäude sowie Baumaßnahmen an bestehenden Gebäuden in Berlin 1991 bis 2014“, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg